Aus dem Leben - Oberaurach

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Aus dem Leben

Oberschleichach > Geschichte
Erinnerungen 3 (Zeitgeschichte) von Georg Krebs

Als ich 1937 geboren wurde, befand sich Europa kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Er ging von Deutschland aus. In Spanien tobte von 1936-1939 ein Bürgerkrieg. Das nationalsozialistische Deutschland unter Hitler unterstützte diese Auseinandersetzung und erprobte seine Waffensysteme, vor allem die Luftwaffe, für den schrecklichen, menschenverachtenden Zweiten Weltkrieg. Dieser begann 1939 mit dem Überfall auf Polen. An diese Zeit kann ich mich natürlich nicht erinnern (ausgenommen siehe den Anfang meiner Briefe).

Unser Vater wurde schon 1940 zu den Soldaten einberufen und zwar nach Frankreich. Von Biarritz(6) haben wir Briefe und Bilder. Als 1941 der Angriff auf Russland begann, wurde er von Frankreich (Westfront) an die Ostfront nach Russland verlegt. Auf dieser Fahrt kam er durch Eltmann, Zeil und Haßfurt. Das sind von Oberschleichach aus gesehen die nächstgelegenen Bahnstationen. Bei der Durchfahrt warf er für mich in Zeil ein Tischbillard aus dem Abteilfenster. Es war sein Weihnachtsgeschenk! Zeil liegt etwa 7 km von meinem Heimatort entfernt. Das Päckchen wurde von einem Fuhrmann, der Schleifsteine an die Bahn brachte, mit nach Oberschleichach genommen. Später schrieb ich darüber ein kleines Geschichtchen über das Schenken. Es befindet sich in dem Geheft “Besinnliches“. Der Titel lautet: “A Christkinnla, o des ich mich erinner“

(6) Am 13. Oktober 2006 fuhren wir mit dem Zug durch Biarritz. Es war in der Nacht. Intensiv musste ich dabei an meinen Vater denken. Wir hatten gerade den Camino abgeschlossen.

Erinnerungen 4   (Onkel Franz) von Georg Krebs

Meine Kindheit in Oberschleichach war typisch für ländliche Verhältnisse und für die Kriegszeit. Erinnerungen – emotional besetzt – habe ich an hohe Schneeberge im Winter 1941/42, an meine Großmutter, die Brosls Reddl(7).  Der Hausname “Brosl“ kommt vom Vornamen Ambrosius. Jemand von den Vorfahren muss so geheißen haben. Mit ihr musste ich frühmorgens hinauf zum Beerberg. Dort schnitt sie mit einer Sichel(8) Gras für die zwei Kühe und die Hasen. Sie trug es – hoch aufgepackt – im Graskorb (Huggelkorb(9)) nach Hause. Beim Aufhuggeln wurde der schwere Korb auf eine Bodenwelle gestellt. Die Großmutter setzte sich davor, streifte die Träger über die Schultern – so wie beim Aufnehmen eines Rucksacks. Beim Aufstehen musste ich den Korb hinten anheben.

Es war eine schöne Zeit in der kleinen Küche bei der Großmutter und der Tante Hedwig. Onkel Franz, der Bruder meiner Mutter, war 1943 aus Krankheitsgründen aus dem Militärdienst entlassen worden. Er saß oft im Lehnstuhl in der Nähe des Herdes.
Onkel Franz und Tante Hedwig
Ein präpariertes Katzenfell wärmte seinen Rücken. Während der Woche tranken die wenigen Gäste – vor allem im Winter – ihr Bier in der Küche.

Eines Tages fing der Papierkorb, der in der Nähe des Sessels stand, Feuer.  Der Vierings Bastl (Sebastian), der alte Metzger des Dorfes, hatte aus Versehen den glühenden Zigarettenstummel in den Korb geworfen. Da wir noch alle am Tisch saßen, als es zu qualmen begann, passierte kein größeres Unglück.

(7) Reddl ist die Abkürzung für Margarete.
(8) Sichl ist ein Handmähgerät; siehe Mondsichel.
(9) Korb, der auf dem Rücken getragen wurde; aufgehoben, gehuggelt.

Erinnerungen 5 (“Da ist so viel Watz(10)“) von Georg Krebs

Die Reddl und die Babett
Im April 1943, als mein Bruder Karl-Heinz geboren wurde, musste ich zum ersten Mal zu Oma, Onkel Franz und Tante Hedwig ins Wirtshaus schräg gegenüber, ins Elternhaus meiner Mutter Babett. Meine Oma, die Brosls Reddl, erklärte mir: “Deine Mutter ist vom Storch gebissen worden.“ So umschrieb man die Geburt eines Menschenkindes in meiner Jugend. Der Storch brachte die Kinder. Bilderbücher zeigten Adebar, wie er die Babys durch den Kamin in die Stube fallen ließ. Er war natürlich nur auf dem Kamin mit dem Menschenkind im Schnabel zu sehen. Das natürliche Geschehen von Zeugung und Geburt, das wir Landkinder auf den kleinen Höfen tagtäglich in den Ställen beobachten konnten, wurde aus Scham und falscher Erziehung ausgeklammert. Überhaupt wurde über Sexualität nicht geredet! Leider! Eine gesunde Aufklärung hätte manches Leid verhindert.

Onkel Franz führte das von seinem Vater Johann Nastvogel eröffnete Wirtshaus weiter. Der Vorbau erfolgte erst nach dem Krieg. Nebenbei betrieb er die kleine Landwirtschaft: Es waren meistens nur zwei Milchkühe im Stall. Sie mussten auch den eisenbereiften Leiterwagen ziehen. Kälbchen wurden aufgezogen und später an den Metzger verkauft.
Im Pferdestall hielt er während des Krieges Hasen: Angorahasen wegen der Wolle und andere wegen des Fleisches. Das tat übrigens auch Karl Gerber in Nürnberg. Oma Sig erzählte immer wieder, dass sie, wenn wieder ein Hase fehlte, weinte und kein Fleisch aß. Sie habe, so wurde ihr erzählt, als Kleinkind immer gesagt: “Da ist so viel Watz, Platz im Stall.“
Vor dem Patrozinium – meine Heimatkirche in Oberschleichach ist dem heiligen Laurentius geweiht – und vor der Martinikirchweih am 11. November wurden manchmal für kurze Zeit auch Ziegen in diesem Stall gehalten. Sie wurden geschlachtet. Eine Spezialität unserer Oma war nämlich an Kirchweih der sogenannte „Bocksbraten“. Mehr als zwei oder drei Schweine konnten im typisch fränkischen Schweinestall eines kleinbäuerlichen Betriebes nicht gefüttert werden.
Heute gibt es solche Ställe nicht mehr. Diese dunklen Löcher – der Ölraum bei uns in Holzhausen war ebenfalls ein Schweine- und Hühnerstall – wären strafbar. Der Tierschutz würde zu Recht eingreifen. Von den Schweinen wurde jährlich eines verkauft. Die Einkünfte aus dem Wirtshaus und der kleinen Landwirtschaft allein ernährten die Familie nicht.

(10) Platz

Brot backen von Georg Krebs

Brot wurde im eigenen Backofen gebacken. Ich sehe, wenn ich die Augen schließe, den hölzernen Backtrog in der kleinen Küche auf zwei Stühlen und Oma, Tante und manchmal meine Mutter Teig kneten. “Der muss so lange geknetet werden“, hieß es, “bis man einen darinnen versteckten Pfennig findet.“ Die Arbeit war schweißtreibend. Da der Teig Wärme benötigte, musste der Küchenherd angeheizt werden. Interessant für mich war auch der Backvorgang. Mit Reisig (dünnen Buchenzweigen und Ästen) wurde der Ofen erhitzt. Die Glut wurde nach hinten und an die Seite geschoben. Mit einem Flederwisch (11) kehrte man die Backfläche sauber. Die Großmutter testete mit einer Zeitung die Hitze. In Holzhausen wurden Ähren verwendet; wenn sie braun wurden, stimmte die Temperatur. Die geformten und aufgegangenen Laibe wurden in den Ofen eingeschossen. Nach einiger Zeit mussten sie umgeschossen werden: die vorderen kamen nach hinten und umgekehrt. Damit das fertige Brot glänzte, wurde es mit Wasser bestrichen und nochmals in den Ofen gegeben. Noch immer rieche ich den Duft des frischen Brotes. Die Nachwärme reichte für zwei Bleche mit pikantem Zwiebelkuchen.

(11) Flederwisch ist ein Enten- oder Gänseflügel, der als Handfeger benutzt wurde.

Schlachttage von Georg Krebs

Die Schlachttage faszinierten mich ebenfalls. Schon sehr früh am Morgen wurde der Kessel angeheizt; heißes Wasser zum Überbrühen aufbereitet. Ab und zu passierte es, dass sich ein Schwein, das eigentlich hätte tot sein müssen, losriss und quiekend bis zum Laufbrunnen an der Linde lief. Nachdem es mit dem Bolzenapparat getötet worden war, wurde es im Trog gebrüht und auf dem Schragen, einem Holzrost, von seinen Borsten befreit; es wurde gleichsam rasiert. Das Blut wurde geschlagen, damit es nicht gerann. Mit ihm wurden dann die im Kessel gekochten Fleisch-, Speck- und Schwartenstücke vermengt. Diese Masse füllte der Metzger in die gesäuberten Därme. Griebenwürste (Grieben sind ausgelassene, grobe Speckstückchen) und Leberwürste wurden im Kessel gekredelt, bei leichter Wärme gedreht. Bevor der Wurstteig gerichtet und die Därme gefüllt wurden, gab es das so genannte Kredel- oder Kesselfleisch: Stücke vom Bauch, von den Wangen usw. Am Ende der Schlachttages wurden Leber- und Griebenwürste zu Sauerkraut und Kartoffelbrei serviert. Der Hausmetzger und alle Helfer aßen miteinander, tranken selbst gebrannten Schnaps (Branntwein) zum Verdauen und bei den Bauern das Hausbier, das bei Zenglein gebraut und mit Butten, Traggefäßen, die am Rücken getragen wurden, in die Fässer der Felsenkeller gebracht wurde (siehe Keller an der Schindersgasse in Oberschleichach oder in Trossenfurt am Grundbachweg). Die Nachbarn erhielten Suppe und Würste. Lang wurden meine Ohren, wenn die Erwachsenen erzählten.

Bevor im April 1945 die Amerikaner einmarschierten, wurde natürlich geschlachtet. Das Fleisch und die Schinken pökelte man ein. Mit viel Salz kam es in ein Tonfass, “Stücht“ genannt, und wurde gut verschlossen im Garten hinter dem Heuboden vergraben. Als Onkel Franz nach Abzug der Amerikaner das Versteck öffnete, waren die wertvollen Nahrungsmittel alle verdorben! Trotz Ölpapier verrosteten auch die vergrabenen Pistolen und ein Gewehr.

In den Jahren nach Kriegsende schlachteten wir schwarz. Die Bauern mussten nämlich Schweine abliefern, damit die Ernährung im besetzten und zerstörten Deutschland mit seinen vielen Flüchtlingen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie, aus dem Sudetenland, aus Ungarn und aus Rumänien gewährleistet war. Bei hoher Strafe war es verboten, zusätzlich ein Schwein zu schlachten.

Das “Schlachthaus“ im Schlafzimmer von Georg Krebs

Ich weiß noch, droben in der mittleren Stube, im Schlafzimmer meiner Großmutter, wurde der Wurstteig bereitet, geknetet und gemischt, in die Därme  gefüllt, abgebunden und in der Nacht im Schlachthaus, das am anderen Ende des Hofes lag, gekredelt. Die Schnitzel, Rippchen  und Schinken pökelte man ein. Gefährlich war während des Tages jeweils der Weg vom Wohnhaus zum Schlachthaus. Noch heute verstehe ich nicht, wie die Gäste in der Wirtsstube – sie lag unter dem Schlafzimmer – unter ihnen auch ein Polizist aus der benachbarten Polizeistation – nichts hörten und vor allem nichts rochen. Eine Anzeige kam nicht!

Kaffeerösten von Georg Krebs

Die Menschen in unserer damals sehr armen Gegend konnten sich schon vor und erst recht nicht im Kriege und danach Bohnenkaffee leisten.  Sie suchten also nach Kaffeeersatz. So stand während des Krieges und noch Jahre danach an der Linde, am Haus von Hans Moser, heute Rottmann, Sticker, der Kaffeeröster aus Kirchaich. Mindestens einmal im Jahr stellte er seinen eisenbereiften, hölzernen Tiefladewagen dort ab. Darauf befand sich der Röstofen, ähnlich einem Kanonenofen. Der Ofen war rund zwei Meter hoch. In der Mitte befand sich, einem Zementmischer gleichend, eine drehbare Tonne von 80 cm Durchmesser.
In diesem “Mischer“ wurden etwa 50 Pfund Gersten- und Roggenkörner geröstet. Durch Drehen bräunten die Körner gleichmäßig. Die ganze Vorrichtung war durch ein Blechdach geschützt. Wie bei normalem Bohnenkaffee wurden die Körner in der Kaffeemühle gemahlen und dann überbrüht. Es gab nach dem Krieg einen bezeichnenden Witz. Eine alte Frau kommt zum Beichten. Der Pfarrer erteilt ihr die Absolution. Nach einer Weile kniet sie wieder vor dem Gitter des Beichtstuhles. Der Pfarrer: “Liebe Frau, Sie waren doch erst vor 10 Minuten bei mir. Was haben Sie denn vergessen zu beichten?“ Darauf die Frau: „Nichts, Herr Pfarrer, bitte geben Sie mir nochmals einen Zuspruch. Sie riechen so gut nach Bohnenkaffee.“

Immer wieder in der Geschichte wurde aus Getreidekörnern, Zichorie (Wegwartewurzeln), gerösteten Möhren, Löwenzahnwurzeln und Früchten (z. B. Feigen, Eicheln usw.) ein Getränk gebrüht. Dieser Ersatzkaffee hieß auch Muckefuck (12). Friedrich der Große verbot sogar den Bohnenkaffee für das gemeine Volk.

(12) Vermutlich kommt diese Bezeichnung von dem französischen Begriff „mocca faux“, also: falscher Kaffee. Es gab auch den Kathreiner Malzkaffee.

Sirup aus Runkel- oder Futterrüben von Georg Krebs

Auch Zucker war in diesen Jahren Mangelware. Zuckerrüben wurden damals bei uns nicht angebaut. Auf den Feldern wuchsen nur Futter- oder Runkelrüben. Ich sehe Tante Hedwig und unsere Oma noch heute in der Küche stehen, Rüben kochen und aus dem gewonnenen Saft einen zähflüssigen, süßen Sirup gewinnen. Rezepte wurden ausgetauscht und Erfahrungen in den Dörfern weitergegeben. Ähnlich war es mit der Tabakgewinnung.

Tabakfabrik in der Küche von Georg Krebs

Sowohl Onkel Franz als auch mein Schwiegervater, Karl Gerber, bauten nach dem Krieg in ihren Gärten Tabak an. Übrigens, in Mittelfranken gibt es bis in die heutige Zeit ein kommerzielles Tabakanbaugebiet (Hersbrucker Schweiz?).

Onkel Franz zog die Pflanzen im unteren Nutzgarten (heute Parkplatz). Die Blätter wurden geerntet und zum Nachreifen in Bündeln zusammen – manchmal im Heu aufbewahrt und dann zum Trocknen an das Gebälk des Dachbodens gehängt. Mein Schwiegervater in Nürnberg hängte die Pflanzen zum Trocknen gleich an das Gebälk des Dachbodens.
Babett kocht gerne
Die Kunst der Verfeinerung – so erinnere ich mich – führte bei uns im Wirtshaus immer wieder zu Fachgesprächen. Onkel Franz gab die Blätter mit einer Lösung (Zucker war sicher dabei) in eine Dose zum “Veredeln“. Sowohl mein Schwiegervater als auch Onkel Franz besaßen eine Tabakschneidemaschine. Der Tabak wurde auch getauscht. Mein Schwiegervater handelte damit Briefmarken ein.

Tante Hedwig am Laufbrunnen
Die Badewanne im Kuhstall von Georg Krebs

Im Kuhstall gab es eine kleine Abmauerung für ein Kälbchen. In diese Box wurde am Samstag die Badewanne gestellt. Das Wasser musste mit der Butte vom Laufbrunnen geholt werden. Dort wurden auch die Kühe getränkt.

Leben am Laufbrunnen

Erinnerungen 6 (Aufbruch in Europa und Ste Jalle) von Georg Krebs

Ste Jalle in der Haute Provence gehört zur Geschichte unserer Familie. Ich habe davon schon weiter vorne berichtet. Von der Landschaft, die wir auf Dias sahen, waren wir begeistert. Es war überhaupt eine Zeit des Aufbruchs in Europa; endlich sollte der Friede zwischen den Völkern einkehren, sollte es Friede werden zwischen Frankreich und Deutschland, den beiden Erzrivalen. Mit Eugene, einem ehemaligen französischen Offizier, der als Kriegsgefangener in Oberschleichach weilte, fuhren wir in der Osterzeit bis Straßburg. Eugene stammte aus Nancy.
Ste Jalle / Provence
Fast jedes Jahr besuchte er die Familie Renner. Als Kriegsgefangener war er Büroangestellter im Sägewerke Renner: Er war der Nachfolger unseres Vaters. In Straßburg übernachteten wir in der Jugendherberge. Oma Sigs Vater durfte nicht wissen, dass wir trampten. Er meinte sowieso, das sei unsere erste Hochzeitsreise vor der Ehe. Von dort ging es per Anhalter in einer „Ente“, einem Citroën, durch den französischen Jura bis in die Berge oberhalb von Grenoble. Am Sonntag hatten wir große Probleme von Chamrousse hinunter ins Tal zu kommen. Die Autos mit Ausflüglern waren voll besetzt. Erst gegen Spätnachmittag hatten wir Glück. Weiter reisten wir mit dem Zug nach Valence. In der dortigen Jugendherberge übernachteten wir. Mit dem Bus von Montelimar kamen wir am nächsten Tag in Nyons an. Albert Zoller holte uns mit dem grünen Frosch, einem alten VW-Bus, ab. Ihr habt das schon gelesen.

Ste Jalle in der Haute Provence wurde uns im Laufe von Jahrzehnten zur zweiten Heimat. Mit Markus und Katrin fuhren wir oft zweimal im Jahr dorthin. Schon als Junge war mein Sohn frankophil und hatte die Melodie der französischen Sprache im Ohr.
Markus "verputzt"
In Wander-, Kultur- und Baulagern arbeiteten wir mit, deckten mit „Onkel Albert“ die schadhaften Dächer, bauten den Yogaraum (Schlafraum) aus und führten 1968 an Ostern Armin Kudella und Gertrud Oppelt im Auftrag des Kreisjugendringes und des damaligen Landrates Walter Keller in die Provence.

Dank Albert, dem Schweizer Begründer der Bruderschaft, dem damaligen Bürgermeister Teste von Ste Jalle und dem Subpräfekten Levou von Nyons konnten wir bei der Suche nach Austauschpartnern mithelfen. Innerhalb von zwei Tagen waren über Valence Kontakte zu Pierrelatte geknüpft, zu Jaques Grand und Raymond Guibert – sie arbeiteten als Ingenieure am Atomkraftwerk und waren unsere Ansprechpartner. Jaques war Jugendbeauftragter des Stadtrates und Raymond ein Ratsmitglied.
Erinnerungen 7 (Storch, Christkind, Nikolaus) von Georg Krebs

Ja, und dann kam am 18. April 1943 mein Bruder Karl-Heinz auf die Welt. Die Storchengeschichte habe ich berichtet. Auch er hat viel geschrien. Später merkte meine Mutter, dass er an einem Leistenbruch litt. Mehrere Wochen musste er nach Bamberg in ein Krankenhaus zur Operation. Als er zurückkam, kannte er uns nicht mehr. Ich erinnere mich an manche Nächte. Er schrie, spuckte seinen Schnuller (Lutscher) aus und ich musste mich in der Nacht um 1:00 Uhr anziehen und zum Hertlein an der Linde laufen. Der alte Hertlein – in meiner Erinnerung war er immer alt – führte einen kleinen Kolonialwarenladen. Ich läutete ihn heraus und kaufte mehrere Schnuller auf Vorrat.
Oma mit Karl-Heinz
In vielen Dörfern meiner Heimat, aber auch anderswo in Deutschland gab es Kolonialwarenläden. Noch heute kann man an ganz alten Häusern diese Aufschrift finden. In diesen Läden wurden Waren aus den deutschen Kolonien verkauft. Sehr spät – erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts – legte sich das Deutsche Reich Kolonien zu. Am Ende des Ersten Weltkrieges gingen sie wieder verloren.
Erinnerungen 8 (Splitter) von Georg Krebs

Dieses Sich-Erinnern führt natürlich dann auch wieder in meine Vergangenheit, meine Kindheit zurück. Nur Splitter sind es, die für mich das Jahr 1944 ausmachen: Ich sehe mich mit meiner Mutter am Fenster stehen und die Straße beobachten. Wenn nämlich Pfarrer Baumann und der Bürgermeister Georg Rottmann die Dorfstraße hinaufgingen, hielten wir den Atem an und es zog sich alles in uns zusammen.

Erst als sie vorüber waren, sagte meine Mutter: “Gott sei Dank, sie sind vorbeigegangen. Aber in welches Haus gehen sie, wem überbringen sie die Nachricht, dass der Sohn, der Vater, der Mann gefallen ist?“ Bürgermeister und Pfarrer mussten in diesen Jahren häufig solche Nachrichten überbringen. Es gab auch in unserem Dorf viele Gefallene. Als ich in den Jahren 2003 und 2008 den französischen Teil des Jakobsweges mit meiner Frau pilgerte und vor allem im französischen Jura die vielen, vielen Namen junger Männer, deren Leben sinnlos vergeudet worden war, auf den Denkmälern des Ersten Weltkrieges las, erinnerte ich mich an diese Erlebnisse.

Und ein weiteres, wirklich böses Bild drängt sich auf: In Unterschleichach, dem knapp einen Kilometer entfernten Nachbarort, dem Geburtsort meines Vaters, war eine Polizeistation.
Geistlicher Rat Baumann
Bürgermeister Rottmann
Sie wurde nach dem Ende des Krieges in die “Villa Renner“ in Oberschleichach verlegt. Dort gab es einen kleinen, feisten Polizisten. In meinem Heimatort lebten neben den französischen Kriegsgefangenen, meist Offizieren, auch russische und polnische Gefangene. Als ich Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts – wie das klingt – in meiner Heimatpfarrei einen polnischen Pfarrer in sein Amt einführen durfte, übermannten mich meine Gefühle. Ich sah diesen Polizisten die Straße entlang gehen und im Nachbarhaus verschwinden. Dann hörte ich ein Weinen, Schreien und Jammern und sah, wie der noch recht junge polnische Gefangene brutal von diesem Polizisten mit dem Schlagstock auf dem offenen Misthaufen mitten im Hof zusammengeschlagen wurde. Oder ich sehe die sechs oder acht 17-, vielleicht auch 18-jährigen jungen Russen, die dem Sägewerk Renner zur Arbeitsleistung zugeteilt waren. Sie mussten auf dem Gelände des heutigen Hauses Renner Unterstände graben.
Ihnen ging es viel schlechter als den französischen Kriegsgefangenen. Diese waren nämlich die Könige im Dorf. Bei ihnen kostete ich zum ersten Mal einen Salat aus Weinbergschnecken. Ich sehe das Gericht noch heute vor mir und schmecke es auf der Zunge.

Franz Eichhorn
"Auto-Eichhorn"
Zur damaligen Zeit gab es für private Wagen kaum Benzin. So behalf man sich mit sogenannten Holzvergasern. An der Rückseite der PKWs und auf der Ladefläche der Lastwagen wurde ein Gerät montiert, das Holz zu Gas (13) verarbeitete. Oft sprang der PKW unseres Sägewerkbesitzers nicht an. Die jungen Russen mussten ihn anschieben. Manchmal schoben sie fast einen Kilometer, bis der Motor zündete. Soweit ich mich erinnere, besaßen Fritz Renner und Franz Eichhorn solche Autos, der “Auto-Eichhorn“ einen Lastwagen. Zu Beginn des Krieges, als es noch Benzin gab, fuhr Fritz Renner ein Dreirad, einen sogenannten „Tempo“. Meine Mutter erzählte mir, wenn der Fritz sein Auto startete – den Zweitakter hörte man bis zum Haus Nummer 28 – sei ich unruhig geworden und hätte geschrien: “Will mitfahren“. Ich erinnere mich, dass er mich öfters bis zum Sägewerk mitnahm.


An der Linde
(13) Seit 1860 (Lenoir) gab es geschäftsmäßig vertriebene Gasmaschinen. Aus verschiedenen Brennmaterialien erzeugte man Gas und fügte Luft dazu. Dieses Gemisch wurde in den Zylindern  (2- oder 4-Takt-Motoren) verdichtet und entzündet. Die Motoren wurden mittels einer Kurbel angeworfen.
Erinnerungen 9 (weitere Splitter) von Georg Krebs

Beim nochmaligen Lesen merkte ich, dass sich die Erinnerungssplitter auch noch auf frühere Jahre beziehen: So sehe ich mich mit einem älteren Ehepaar aus Pirmasens auf dem Weg nach Zell. Ich nannte sie Oma und Opa. Sie wohnten bei Onkel Franz und Tante Hedwig im Wirtshaus. Ich sehe mich aber auch schreiend und “strampfend“ in einem ausgetrockneten Schlagloch der Dorfstraße liegen und schreien: “Nein! Ich will nicht in den Kindergarten!“ Teerstraßen gab es zu dieser Zeit noch nicht, schon gar nicht auf dem Lande. Wenn, dann waren die Straßen gepflastert. Im Dritten Reich wurden Kindergärten errichtet. In Oberschleichach hatte man dafür die Pfarrhausscheune ausgebaut. Das Schlimmste am Kindergarten war, dass man nachmittags auf Feldliegen schlafen musste. Es sind die mit Emotionen besetzten Erinnerungen, die im Gedächtnis haften. Die Lernpsychologie hat dies später wissenschaftlich bestätigt. Erkenntnisse, die eigentlich Allgemeingut sind und waren!

Dann sind da die Erinnerungen an unseren Steinbruch am Beerberg. Er ging nach dem Tode der Tante in unseren Besitz über (Erbengemeinschaft). Ich weiß noch heute die Stelle des Arbeitsplatzes und wo das dortige kleine Steinhaus stand: Werkzeugdepot und Brotzeitplatz bei unwirtlichem Wetter. Ein Schleifstein und eine Feldschmiede befanden sich davor. Mein Großvater kaufte noch einen Acker nach Westen zu. Er hoffte dort guten Stein für die Schleifsteinproduktion zu finden. Leider hatte er damit kein Glück. Später, als ich älter war, pflügte ich zum ersten Mal mit einem Wendepflug auf diesem steinigen Acker. Im Gegensatz zum sogenannten Einscharpflug konnte man Furche an Furche aufbrechen und musste nicht außen herum arbeiten. Apropos, also nebenbei bemerkt, war das Auflesen der Steine eine Plage. Sie wurden an die Ackerraine geworfen: natürliche Biotope!

Während des Krieges mussten wir Eicheln und Bucheckern, Kamillen und andere Kräuter sammeln. Sie wurden bei Familie Kraus im alten Brauhaus aufbewahrt. Später, in den letzten Jahren des Krieges und danach rief die Dorfglocke die Bewohner (Wir Kinder mussten dies auch während der Schulzeit tun) zum “Kartoffelkäfer-Sammeln“.

Dabei wurde auf die Amerikaner geschimpft. Angeblich warfen sie die Käfer aus ihren Flugzeugen ab, um der Ernährung der “Volksgenossen“ (14) zu schaden. Wir Kinder mussten auch beim Rüben- und Kartoffelernten helfen. Kinderarbeit! Das war ganz normal. Motto: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr!

Obwohl Onkel Franz rund 3 Hektar Wald besaß, musste er Hartholz (Buche und Eiche) für den Winter zukaufen. Mit dem von Kühen gezogenen, eisenbereiften Wagen fuhren wir die Kammerstraße entlang und am Wotansborn vorbei. Nur wenige Ster konnten geladen werden. Auf der Rückfahrt fanden wir viele Steinpilze.

Einmal auf der Heimfahrt vom Beerberg krümmte sich Onkel Franz vor Schmerzen und legte sich auf die Ladefläche. Der Weg führte durch eine schmale “Hohlgasse“ steil hinab. Diese Fuhrwerke besaßen keine Handbremsen, die vom Kutschbock (auch den gab es natürlich nicht) bedient werden konnten, sondern hinter den beiden Vorderrädern befanden sich Bremsbacken (15), die an die Räder “angedreht“ wurden; so wurde der Vorgang genannt. Das konnte nur vom Weg und nicht vom Fahrzeug aus gemacht werden. Die Kühe zogen. “Ach Gott“, stöhnte er, “es ist nicht angedreht.“ Mir verbot er abzusteigen. Und dann ging die wilde Fahrt los. Das Gefährt wurde hin- und hergeworfen, holperte über die Steine, schlingerte. Die Kühe rannten. Es ging gut aus. Das Steilstück war nicht sehr lang.

Ihr seht, meine Lieben, solche emotional (siehe oben) besetzten und das Leben bedrohende Situationen vergisst man nicht. Dieses Bild prägte sich tief ein: die Steinbrocken, das Gebüsch mit den Hollersträuchern (16). Seit Jahrzehnten schon ist diese Stelle zugeschüttet, ungefährlich.

Onkel Franz
Während der Kriegsjahre kamen manchmal Onkel Schorsch und Tante Marie aus Nürnberg zu Besuch. Onkel Schorsch und Onkel Franz waren meine Vorbilder. Kein Wunder, denn meinen Vater erlebte ich nur alle paar Jahre im Heimaturlaub. Ab 1943 waren es immer nur kurze Feldpostbriefe oder Karten, die die Verbindungen zu ihm darstellten. Er schrieb fast jeden Tag. Als keine Lebenszeichen mehr kamen, wuchsen Sorge und Angst um ihn.
Onkel Schorsch, der älteste Bruder meiner Mutter ‚Babett‘, durfte ein Gymnasium in Bamberg besuchen. Alle Knaben, die in dieser Zeit auf eine weiterführende Schule kamen, sollten eigentlich Pfarrer werden. In seinem Lebenslauf schrieb er später: “Durch die finanzielle Lage meiner Eltern nach Kriegsende 1918 wurde ich gezwungen, aus der achten Klasse des Humanistischen Gymnasiums in Bamberg auszutreten, wo ich zu den Klassenbesten zählte.“
Seine Zeugnisse belegen eindrucksvoll diese Feststellung. Das war dann im Jahr 1920, ein Jahr vor dem Abitur. Sein Werdegang, seine Vorlieben und seine Stärken finden sich in der Zusammenstellung: “Der Brosels Schorsch“. Für mich war er immer ein Vorbild, eines dem ich nachstrebte, an das ich aber nicht heranreichen konnte. Überall in seinem Elternhaus war er präsent: Bücher von ihm, Schmetterlings- und Käferkästen, Herbarien und Fotos der Heimat fanden sich in fast allen Zimmern und auf dem Dachboden. Er war sehr belesen (gebildet) und als Persönlichkeit anerkannt. Für Karlheinz Deschner, dem bekanntesten Kirchenkritiker der Jetztzeit (‚Kriminalgeschichte des Christentums‘), war er in dessen Jugend ein väterlicher Freund. Deschner setzt ihm in seinem Buch “Florenz ohne Sonne“, erschienen im König-Verlag, mit einer wunderbaren und treffenden Persönlichkeitsbeschreibung ein Denkmal. Eine kurze Passage aus dem Buch verdeutlicht dies: “…er lehnt an der Wand; ein bisschen verkrümmt, und schaut dir entgegen, er hat dich schon erblickt, dich früher gesehen als du ihn, er ist Kriminalist, natürlich, ist Spezialist für Schusswaffen, er untersucht die Löcher in den Körpern der Menschen, in den Fensterscheiben, den Hauswänden, er stellt das Kaliber fest, die Richtung, er ist unerhört genau, ist beliebt, er angelt und schaut Pflanzen an, und nie hat er seine Frau beim Vornamen genannt, in seinem ganzen Leben nicht, und ist schon dreißig Jahre mit ihr verheiratet.“

Onkel Schorsch
Wie dankbar bin ich Karlheinz Deschner für dieses Bild. Und ich erinnere mich an das, was die katholische Gemeindeschwester aus der Pfarrei Mögeldorf nach seinen Tod zu mir sagte. Sie hatte ihn im letzten Lebensjahr betreut: “Ihr Onkel ging zwar kaum in die Kirche, aber war ein zutiefst religiöser und grundgütiger Mensch.“ Bei den “Nürnberger Prozessen“ war er als Schriftsachverständiger tätig. So hatte er das Buch “Der SS-Staat“ von Eugen Kogon daraufhin zu begutachten, ob es als Tagebuch oder im Nachhinein geschrieben wurde. Eugen Kogon war selbst sechs Jahre lang Häftlinge in Buchenwald.

Während meiner Aufenthalte, als Gymnasiast schon, nahm er mich zu einem Pirschgang auf Schnepfen am Schmausenbuck (Tiergarten) und zum Angeln an die Pegnitz mit. Ich glaube, er merkte sehr bald, dass meine Interessen woanders lagen.

(14) So nannte man im ‚Dritten Reich‘ die Menschen in Deutschland.
(15) Es handelte sich um einen Bremsklotz, der mit unterschiedlicher Stärke, je nach Bedarf, an die Eisenreifen der Holzräder angedreht wurde.
(16) Holler: süddeutsche und österreichische Bezeichnung für Hollunder

Erinnerungen 11 (Fliegeralarm in Bamberg) von Georg Krebs

Mit dem Zug oder mit dem Postbus, der von Unterschleichach startete, war ich mit meiner Mutter nach Bamberg gefahren. Der Grund ist mir entfallen, ebenso das Jahr und der Monat. Ich denke, es war 1945. Einen Fliegeralarm hatte ich noch nicht erlebt. Die Sirenen heulten, alle Menschen rannten in den nächstgelegenen Luftschutzkeller. Der war gegenüber dem Grünen Markt am Maxplatz. Es war, so fand ich im Internet, am 1. April 1945, als vor Zapfendorf bei Bamberg ein dort abgestellter Munitionszug von Tieffliegern beschossen wurde und explodierte.

Kriegsende von Georg Krebs

Zu Beginn des letzten Kriegsjahres 1945 herrschte spürbare Unruhe. Immer wieder kamen Soldaten durchs Dorf. Dunkel erinnere ich mich auch an einen Zug zerlumpter Menschen, die sich langsam aus Richtung Zell ins Dorf schleppten. Sie wurden von Soldaten zu Pferde bewacht. Sicher kamen sie aus einem der Konzentrationslager und wurden weiter nach Westen verlegt.
Robert, einer der französischen Offiziere, der für die Brauerei Zenglein Bier ausfuhr, ging, nachdem er die Bierfässer und das Stangeneis in den Keller getragen hatte, mit Onkel Franz in die Kammer. Dort hörten sie dann den verbotenen englischen Sender BBC. Ihnen war klar, das sprachen sie auch aus, dass der Krieg längst verloren war. Sie wussten auch, dass dieses Tun bei Entdeckung zum Tode durch Erschießen führen konnte. Eines Nachts, es war wohl schon im April – hörte ich Motorenlärm, Hufgeklapper und Befehle. Als ich zum Fenster hinausblickte, sah ich Soldaten, Autos – eines stand mehrere Tage sogar bei uns in der Scheune – und Motorräder. Am Morgen war der ganze Spuk vorbei.
Olga und Friedrich Zenglein
Es war sehr heiß und trocken in dieser Zeit. Nach dem Weißen Sonntag – ich denke, es war der Montag, der Weiße Montag, wie es bei uns hieß, wanderte ich mit einigen der Kommunikanten – Erich Eichhorn, ein Jahr älter als ich, war dabei – zum Ebersberg. Es war am 7. April 1945. Wir hörten Kanonendonner und das Knallen der Flakgeschütze. Ab und zu tauchten auch feindliche Flieger auf. Es war sehr warm. Wenige Tage später kamen dann die Amerikaner.

Gefährliche Situationen von Georg Krebs

Am Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner musste der Landsturm (alte, nicht mehr wehrfähige Männer) am zweiten Zeller Berg eine sogenannte Panzersperre aus Baumstämmen errichten. Man stelle sich einen Räumpanzer und die jämmerlichen Stämme vor. Es war dann in der Nacht auch kein Problem, die Stämme wegzuziehen und den Graben wieder zu verfüllen.

In unserer Wirtsstube befand sich der Stab der zurückweichenden Truppe. Ich glaube, es war ein SS-Obersturmbannführer, der das Kommando hatte. Links und rechts der Dorfstraße in Richtung Zell standen 15- bis 16-jährige Burschen mit Schaufelstielen bewaffnet in Schützenreihe. Mit Onkel Franz kam ich aus dem Hof zur Wirtshaustür. Waldi, unser Hund, begleitete uns. Als der Obersturmbannführer herauskam, sprach Onkel Franz ihn an und sagte sinngemäß: “Das ist doch ein Wahnsinn, das ist Mord, diese jungen, unbewaffneten Burschen sinnlos zu opfern.“ Nach einem knappen, harten Wortwechsel standen sich beide mit gezogener Pistole gegenüber. Onkel Franz hatte seine kleine Mauser in der Hand. Wäre die Oma, die den Wortwechsel hörte, nicht gekommen, ich weiß nicht, was passiert wäre! “Seid ihr denn verrückt!“, sagte sie, „das bringt doch nichts, morgen wird der Amerikaner hier sein.“ Der Offizier senkte die Waffe und die äußerst kritische Situation war behoben. Die jungen Burschen wurden im Laufe der nächsten Stunde auch zurückgenommen.

Ihr müsst wissen, es gab auch in dieser ausweglosen Situation noch verbohrte Nazis, die an den Endsieg glaubten und die Befehle bis zum bitteren Ende ausführten.

In Unterschleichach am Dorfeingang, wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, wurde ein desertierter Soldat hingerichtet.

Sterben dauert lang von Georg Krebs

Eigentlich wollte sich unsere Mutter mit uns – wie andere aus unserer Nachbarschaft – am Beerberg in der Unterführung unseres Steinbruches verstecken. Wir kamen aber nur bis zur damaligen ersten Bodenwelle in der “Schindersgasse“. Sperrfeuer – vermutlich vom Schlossberg in Zell – hinderte unser Weiterkommen. Splitter sirrten, fingen sich in dieser Hohlgasse, splitterten und flogen durch die Luft. Es krachte und knallte! Etwa eineinhalb Meter links von mir lag die 15-jährige Inge Eichhorn aus dem Nachbarhaus. Ein verirrter Splitter bohrte sich in ihre Schläfe. Während einer Feuerpause eilten wir dem schützenden Hang entlang zurück in einen Keller. Dort saßen wir, Inge jammerte. Niemand konnte helfen, der Beschuss ging weiter. Es war ein qualvolles Sterben. Wir gingen dann zu Onkel Franz zurück und erlebten den Einmarsch der Amerikaner im Bier- und Eiskeller unter der Scheune. Gegen zehn Uhr tauchte noch ein deutscher Soldat auf. Er sollte den Zünder des Sprengstoffes an der Panzersperre scharf machen. Dies tat er nicht, weil die Amerikaner sich schon überall in der Flur aufhielten. In der Nacht tauchten sie auf.
Ich sah zum ersten Mal einen schwarzen GI. Die Tage danach waren für uns Kinder erfüllt mit Sehen und Staunen und der Hoffnung auf einen Kaugummi oder auf Schokolade. Tagelang fuhren die Kolonnen durch das Dorf. Die Straßen waren trocken und staubten fürchterlich. Teerstraßen gab es bei uns noch nicht. In der ersten Zeit verhängten die Amerikaner ein Ausgangsverbot. Nur zu genauen festgelegten Stunden durften die Bewohner auf die Straße.

Frieda musste helfen von Georg Krebs

Wir Buben aus den Häusern südlich der Dorfstraße hielten uns jedoch nicht an das Verbot und trieben uns am Beerberg herum. Dort konnten wir spielen und allerhand Unfug treiben, teilweise sehr gefährlichen, überall lag Munition herum. Auf dem Heimweg kam ich in Streit mit einem Nachbarsbuben. Plötzlich waren auch wir “im Krieg“, obwohl der nun ja vorüber war, und bewarfen uns mit Steinen. Ich traf ihn zwar nicht, er aber mich. Die Folge war eine ziemliche Platzwunde am Kopf . Durch den offenen Zaun kam ich in den oberen Garten. Die Familie hielt sich dort auf.
Eine Lore, ein Rollwagen wie wir in Schleichach dazu sagen, war hier abgestellt. Ich kam also weinend und blutend an. Onkel Franz fragte mich, was denn geschehen sei und als ich sagte: “Der Richard hat mich mit einem Stein getroffen“, fragte er nur: “Hast du auch geworfen?“ Als ich dies bejahte, legte er mich über den Rollwagen und versohlte mich. Seine Begründung, weil du heulst und das Ausgangsverbot missachtet hast, bekommst du diese Abreibung. Kopfwunden bluten ja bekanntlich stark. Der Riss war auch ziemlich lang und tief. Also musste ich zur Krankenstation im Austragshaus der Brauerei Zenglein gebracht werden. Aber wie? Wo doch Ausgangsverbot herrschte und die Amerikaner nicht lange fackelten! Das hatten wir erst zwei Tage vorher erlebt. Frieda sollte am Friedhof erschossen werden. Dem Eingreifen unseres Geistlichen Rates Baumann, der den Vorgang von seinem Studierzimmer aus beobachtete, war es zu verdanken, dass dieses Vorhaben verhindert wurde. Nun war Frieda als kranke Person bei den Amerikanern einschlägig bekannt. Mit ihr wurde ich zur Station geschickt und dort auch ohne Komplikationen verarztet.
Frieda Bergmann
Erinnerungen 12 (Weiterführung) von Georg Krebs

Hier tauchen wieder Erinnerungen aus meiner Kinderzeit auf: z. B. an meine ersten Ski. Ich bekam sie an Weihnachten. Der Karles Franz (Franz Hartmann, der mich auch mit seinen Couplets beeindruckte: “Schau ich weg von dem Fleck, ist der Überzieher weg“) vom Kleinen Damm hatte sie aus Eschenbrettern geschnitten. Über einem großen Topf mit kochendem Wasser erhitzten wir die Skispitzen. Dann wurden sie an der großen Leiter in unserer Scheune eingespannt, gebogen und hinten an die Leiter gebunden. Die Skistecken waren aus Rundstäben unseres Sägewerkes. Der Dorfschmied (Göbel) hatte Spitzen hineingeschlagen und diese mit einem Eisenring gegen das Ausbrechen gesichert. Auch die Bindungen fertigte er aus Metall, Lederriemen vervollständigten das Ganze. Wir fuhren die Hänge des Beerberges hinunter: von der Brunnstube aus und an der “Brüllochsenwiese“. Diese Wiese erhielt jeweils der Bauer, der den Zuchtstier im Stall hatte. Wir fuhren Schuss und bremsten mit dem sogenannten “Arschschwung“.
Franz Hartmann, der "Karles Franz"
Verlängerte Ferien von Georg Krebs

Nach dem Einmarsch der Amerikaner hatten wir einige Monate keine Schule. Das waren schöne, lange Ferien! Kurze Zeit unterrichtete uns dann eine blutjunge, blonde Hilfslehrerin. Mit ihr machten wir, was wir wollten. Als wir das Hornissennest an der Schulhausmauer mit Steinen bewarfen, dachte sie, wir wollten die Birnen herunterwerfen. Sie war so erbost und erregt, dass sie während der Unterrichtszeit zur Polizei laufen wollte, um uns anzuzeigen. Unser Nachbar Hans Moser fing sie an der Linde ab und meinte, als er gehört hatte, worum es ging: “Fräulein, kehren Sie bitte um. Sie machen sich doch nur lächerlich, wenn Sie zur Polizeistation gehen.“ Ich erinnere mich auch noch an eine weitere Lehrerin. Sie war dunkelhaarig. Nachhaltig ist mir auch die Schulspeisung in Erinnerung. Die Quäker in Amerika hatten sie ins Leben gerufen, der Geruch des Erbsenbreis und der Geschmack des Lebertrans begleiten mich seitdem.

“Kriegsspiele“ von Georg Krebs

In diesem heißen Sommer, nachdem die Ausgangssperre aufgehoben worden war, bauten die älteren Burschen Burgen in den Steinbrüchen am Beerberg. Mich nahmen sie ja nur mit, weil sich die Oberschleichacher Burg im Steinbruch meines Onkels Franz befand. Es gab regelrechte “Kriegshandlungen“ gegen die Neuschleichacher, die “Althütter“. Sie wurden nach den Sonntagsgottesdiensten den Beerberg hinaufgetrieben. Erst als es an einem heißen Sonntag auf Neuschleichacher Grund einen Verletzten gab, endeten die Auseinandersetzungen. Ich erinnere mich, dass ich vor lauter Aufregung Nasenbluten bekam. Diese Auseinandersetzungen zwischen Ober- und Unterschleichachern auf der einen Seite und den Neuschleichachern auf der anderen Seite hatten wohl ihren Grund in der vermuteten “Andersartigkeit“, wohl in einer größeren Weltoffenheit. Schließlich verdankte Neuschleichach seine Gründung der Glasfabrikation. Menschen aus anderen Teilen Deutschlands arbeiteten dort. Später gingen die “Althütter“ (im Vergleich zu Fabrikschleichach, der “Glashütten“, stand in Neuschleichach die „Alte Hütte“, die dann nach Fabrikschleichach verlegt wurde) (17) mit ihren Holzwaren auf Reisen. Noch heute findet man einzelne als Fieranten  auf fränkischen Märkten. In den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts wurde sogar ein Unterschleichacher nach einer solchen Auseinandersetzung – wohl nach einer Tanzveranstaltung – mit einem Kartoffelstampfer so schwer verletzt, dass er eine Körperbehinderung davontrug. So wurde es zumindest erzählt. Heute in der Großgemeinde Oberaurach spielen Streitereien dieser Art keine Rolle mehr. Die Neuschleichacher beweisen schon lange ihren Gemeinschaftssinn und ihre Kreativität. Ihre Wintersportaktivitäten sind herausragend. In diesem langen Winter haben sie mit ihrem Skilift endlich wieder etwas verdient.

(17) Für die Pottasche wurde sehr viel Holz benötigt. So wanderten die Glashütten und Glasmacher dem Holze nach. Die Glashütte in Fabrikschleichach erlebte ihre Blütezeit zur Zeit Balthasar Neumanns. Er benötigte das Glas für den Bau der Würzburger Residenz. Napoleon bezeichnete diese als das „schönste Pfarrhaus Europas“. Eine Besichtigung lohnt sich immer.

Erinnerungen 13 (Nachkriegszeit) von Georg Krebs

So wie 1945 war auch der Sommer 1947 sehr heiß. Das Futter reichte nicht. Stroh, das in normalen Jahren als Einstreu verwendet wurde, benötigten die Bauern nun als Futter für das Vieh. Aus den Wäldern holten wir das trockene Laub, um es als Streu zu verwenden. Von den Weidenbäumen und Sträuchern „strüpften“ (streiften) wir das grüne Laub ab. Die Tiere bekamen es als Grasersatz. Im Herbst nach dem zweiten Grasschnitt weideten wir die Kühe auf den Wiesen. Die Kartoffelernte – es gab eigene Kartoffelferien im September – war zu dieser Zeit schon vorüber und so verbrannten wir das Kartoffelkraut auf den Äckern, garten gefundene Kartoffeln in der Glut und trieben gefährliche Spiele: Fast überall an den Waldrändern fanden wir – vor allem im Herbst 1945, aber auch später noch – Munition oder zumindest ausgeworfene Patronenhülsen in sogenannten ehemaligen MG-Nestern. Wir achteten zwar darauf, dass die Geschosse nicht mehr auf den Hülsen steckten, entfernten sie auch selber, bevor wir die Hülsen ins Feuer warfen, aber manchmal geschah es dann doch, dass nicht nur die Zündkappen knallten, sondern das Zischen eines Geschosses zu hören war. Eine gefährliche Angelegenheit. Wir hatten Glück. In anderen Orten trugen Kinder beim Spielen mit Fundmunition oft gefährliche Verletzungen davon; manche kamen auch zu Tode.

Verluste von Georg Krebs

Das Leben nahm seinen Gang. Von unserem Vater hörten wir nichts. Die Oma, Margarete Nastvogel, starb am 8. Oktober 1946. Sie lag aufgebahrt in der Wirtsstube, ebenso wie Onkel Franz, der uns 1¼  Jahre danach am 13.1.1948 verließ. Ich sehe ihn heute noch Abschied nehmen, wie er da anhielt im Hof. Er ahnte, dass er nicht mehr nach Hause kommen würde. Am dritten Tag nach der Operation in einer stürmischen Nacht verstarb er. Sterben und Tod waren für uns Kinder erfahrbar, gehörten zum Leben so wie die Geburt. Wenn die Glocke der Gassenschenke im Wirtshaus läutete, musste ich an den Särgen vorbei. Beiden, der Oma und dem Onkel, strich ich über die wächserne Stirn. Es war ein gutes Abschiednehmen, nicht anonym. Die Bilder des Lebens, das Lachen und der Ernst, die Trauer und die Sorge ebenso wie die Bilder des Todes, das Friedlich-Vollendete und Endgültige werden mich bis zum Lebensende begleiten. Ganz anders als beim Vater: Unvollendet, jung bleibt er in Erinnerung. Offen bleiben Bilder seiner letzten Atemzüge, seiner Ruhestätte. Was bleibt ist eine Trauerfeier mit “Ich hatt‘ einen Kameraden“, sind die peitschenden Schüsse der dazugehörenden Ehrensalve. Ein Kamerad aus der damaligen Ostzone teilte mit, dass er den Tod unseres Vaters bezeugen könne und gab eine entsprechende Eidesstattliche Erklärung ab. Er schrieb, dass Gefangene, die keine äußeren Verletzungen hatten, von den Wagen herunter mussten. So auch unser Vater, der herzkrank war. Als er im Gefangenenzug nicht mehr weitermarschieren konnte, wurde er einfach erschossen. Das also sind die Bilder, die bedrücken, Angst erzeugen, immer wieder auftauchen. Die Suchanzeige über das Rote Kreuz konnte kein Grab ausmachen.

Die Jahre vergehen von Georg Krebs

So vergingen die Jahre. Ich lebte ganz im Elternhaus unserer Mutter, sollte das Anwesen übernehmen. Je älter ich wurde, desto mehr musste ich in der kleinen Landwirtschaft und in der Gastwirtschaft mitarbeiten. Ich erinnere mich an mein erstes Pflügen am Beerberg, an die Mithilfe bei der Getreide- und Heu-, Kartoffel- und Rübenernte, das Bedienen im Gasthaus und das Zubereiten kleiner Speisen in der Mittagszeit, wenn die Tante nicht zu Hause war. Oft kamen Vertreter oder Reisende und wollten etwas zum Essen. So bereitete ich ihnen Schinken und Ei und schnitt ein Brot dazu. An den Sams- und Sonntagen wurde ich zum sogenannten “Brunskarter“, dass heißt immer, wenn ein Spieler zur Toilette ging, musste ich einspringen. Verlor ich ein Spiel, wurde ich dumm angeredet. In den späteren Jahren – ausgenommen während meiner Bundeswehrzeit – spielte ich nie mehr gerne Karten. Mein Schlafzimmer lag neben dem Wohnzimmer im ersten Stock. Gastwirtschaft, Nebenzimmer und Küche befanden sich im Erdgeschoss.
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